digitalisierung des lernens
kleine polemik anlässlich einer fachtagung
Digitalisierung ist derzeit der heißeste Scheiß, mit dem in der Schule tätige Menschen konfrontiert werden. Nirgendwo sonst ist die Chance so groß, sich als hippe und innovative Lehrkraft profilieren zu können – und zugleich das Risiko so hoch, als hoffnungslos outdated und fortbildungsresistent dazustehen. Die bildungspolitische Rhetorik gerade in Wahlkampfzeiten tut hier ihr Übriges. „Digitalisierung first. Bedenken second“.
Nun ist sicherlich unstrittig, dass digitale Medien neue Möglichkeiten schulischen Lernens schaffen, sei es im Bereich kooperativer und kollaborativer Lern- und Arbeitsformen, in der Eröffnung neuer, individueller Lernwege über die Begrenzungen von unterrichtlicher Vermittlung, Lehrbüchern oder stationären Wissensspeichern hinaus oder bei der visuellen Aufbereitung und Präsentation von Lernprodukten. Und ebenso klar ist es, dass Schule und Unterricht angesichts der heutigen Relevanz digitaler Endgeräte und der Nutzung verschiedenster digitaler Inhalte, Medien und Kommunikationskanäle durch die Schüler*innen auch im Blick auf die Förderung einer kritisch-reflektierten Medienkompetenz herausgefordert sind. Insofern sind digitalisiertes Lernen und die Auseinandersetzung mit den Implikationen der Digitalisierung absolut geboten.
Es gäbe also viel zu tun und, nun ja, zu bedenken: in der pädagogischen und (fach-)didaktischen Reflexion dieser Herausforderungen, in der Konzeption geeigneter digitaler Lernumgebungen, in der Bereitstellung von Finanzen und Ressourcen für die Einrichtung und kontinuierliche Administration der erforderlichen Infrastruktur und nicht zuletzt in der (bildungs-)politischen Bewertung der zunehmenden Abhängigkeit von Softwaremonopolen, Lizenzkosten oder auch Datenschutzerfordernissen im Kontext von schulischer Bildung.
Aber, anders als es der zitierte Slogan der FDP suggerierte, ist „Digitalisierung first. Bedenken second“ schon lange das Motto in dieser Sache. Da werden für teures Geld nahezu konzeptionslos Geräte unterschiedlichster Hersteller angeschafft, ohne im Vorfeld mit den Anwendern, also den pädagogischen Profis vor Ort oder gar den Schüler*innen, die tatsächlichen Erfordernisse zu prüfen oder gemeinsame Standards zu erarbeiten. Es werden Lernplattformen entwickelt, gestoppt, wieder andere eingeführt. Am besten gleich mehrere verschiedene an unterschiedlichen Standorten, damit man nicht aus der Einarbeitung herauskommt. Administrationsaufwand wird aufgrund fehlender Expertise im Entscheidungsprozess selten bedacht, geschweige denn als notwendiger kontinuierlicher Bedarf strukturell und dauerhaft entlastet. Die Abhängigkeit von externen Dienstleistern und deren Entscheidungslogik nimmt immer mehr zu und mangels Wissens um bessere Alternativen setzt sich die Software einer bekannten Fensterfirma flächendeckend durch. Und für die notwendige Fortbildung an neuen Geräten gibt es vorzugsweise einen Termin: Freitagnachmittag nach Unterrichtsschluss, individuell und auf eigene Rechnung. Das Bedenken solcher Aspekte wäre nun in der Tat hilfreich und unbedingt an der Zeit.
Was im Umfeld der bildungspolitischen Digitalisierungsoffensiven aber stattdessen stattfindet, ist eine mit hohem Aufwand betriebene, in Phraseologie und Ideologie immer unverhohlener zutage tretende Neuausrichtung von Bildungszielen, die zumindest teilweise irritierend unkritische Züge aufweist. Vor allem wer den Dienstleistern der Digitalisierung im Umfeld von Schule zuhört, der stößt auf eine erstaunlich selbstbewusste Agenda des „neuen Lernens“. Auf der Oberfläche findet man natürlich das in der Branche unverzichtbare wording, in dem es etwa von „agilem Lernen“, „learning on demand“ oder anderen Phrasen mit hohem Aufmerksamkeitswert wimmelt. Schnell wird deutlich: Solche Konzepte treten mit dem unerschütterlichen Impetus auf, das Lernen grundlegend verändern zu wollen bzw. es bereits zu verändern. Und alle stützen sich auf die vorgeblichen, umwälzenden Einflüsse der Digitalisierung auf die Welt, auf unsere Weltsicht – und auf die damit verbundenen, neuen Erfordernisse des Lernens. Unter Revolution oder Umbruch tun sie es in der Regel dabei nicht.
Die digitale Welt sei etwa im Unterschied zur analogen „vuka“ – volatil, unsicher, komplex und ambig (1). Was haben wir gelacht! Die aus dem Jargon des US-Militärs geklaute Phrase hat als schlagzeilenhafte Übersteigerung des digitalen Wandels zur Suggestion einer fundamental neuen Qualität gesellschaftlicher Veränderungsprozesse schon fast etwas Manisches. Und sie ist dazu völlig ahistorisch. Als habe, zum Beispiel, die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts nicht mindestens ebenso einschneidende soziale, politische und bewusstseinsgeschichtliche Verwerfungen, Umbrüche und Unsicherheiten zur Konsequenz gehabt wie das, was heute abläuft. Oder als sei Zukunft für, sagen wir, Menschen im Europa des 17. Jahrhunderts angesichts von drei Jahrzehnten Krieg und verheerenden Seuchen nicht sogar viel unsicherer gewesen als für uns Heutige – und ihre Gegenwart angesichts permanenter Angst vor Gewalt, ständig wechselnder Machtverhältnisse und unklarer Fronten nicht mindestens genauso komplex. „Vanitas“, Vergänglichkeit, wäre so gesehen nichts anderes als die „vuka“-Vokabel der Barockzeit. Das „Memento mori“, die Einsicht in die eigene Endlichkeit, bleibt allerdings dem Barock als Alleinstellungsmerkmal vorbehalten – der aktuelle Digitalisierungsdiskurs geht ja mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein der beteiligten Akteure einher, nicht nur das Heute zu gestalten, sondern die Zukunft gleich mit. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die Gegenwartsperspektive heutiger digitaler Eliten zur Zukunftsformel für die gesamte Menschheit deklariert wird, deren Probleme am Ende vielleicht doch noch ganz andere sind…
Das alles heißt natürlich nicht, dass wir uns heute nicht auf neue Herausforderungen einstellen müssen. Aber auf diesem Niveau?! Spätestens bei einem Begriff wie dem der „Lern-Nuggets“, die an die Stelle langfristiger und reflektierter Lernprozesse treten sollen, könnte man tatsächlich aussteigen und niveauadäquat zum Bullshit-Bingo greifen – wenn, ja wenn die Sache nicht doch ernster wäre.
Denn erstens ist das „neue“ oder „agile“ Lernen in seiner pädagogischen Substanz alles andere als neu. Verkauft wird ein neues Rad, geliefert bestenfalls eine polierte Radkappe. Unter der neu gestylten Oberfläche finden sich Referenzen an alte Bekannte wie die Konzepte der Subjektorientierung und des Projektlernens in der außerschulischen Jugendarbeit, des situativen Ansatzes der Vorschulpädagogik und nicht zuletzt des kooperativen Lernens, die informierten Pädagog*innen aus reformpädagogischen Ansätzen, aus der außerschulischen Jugendarbeit der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts und mittlerweile auch aus den Arbeiten von Green und anderen bestens vertraut sind. Es wäre angesichts dieser Mogelpackung an der Zeit, nicht mehr wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren.
Neu allerdings, und hier wird es in der Tat interessant, ist etwas anderes. Wer sich mit dem ideologischen Hintergrund des vermeintlich „neuen“ Lernens beschäftigt, stellt schnell eines fest: Es ist ökonomistisch begründet. Nicht zufällig entstammen diese Ansätze häufig dem Bereich der Softwareentwicklung, die ein neues Konzept der Arbeitsorganisation und auch der Kompetenzentwicklung der Beschäftigten hervorgebracht hat, das sich von dem der klassischen Industriearbeit und der mit ihr verbundenen, klaren Hierarchie unterscheidet. Hier geht es überhaupt nicht um Bildung im Kontext von Zielen wie Subjektwerdung, Autonomie, Reflexion und, ja, Freiheit. Der Fokus ist so klar wie überraschungsfrei: „[D]ie wichtigste Frage ist ja, welche Bedarfe und welchen Nutzen hat der Kunde?“ (2)
Was hier stattfindet, kann man in erster Linie als Anpassung des Lernens, former known as „Bildung“, an die Erfordernisse einer hypostasierten digitalisierten Welt verstehen, die bei genauerer Betrachtung einer recht einfachen Logik folgt: It´s economy, stupid! Bildung wird im Kontext ökonomischer Zwecke und Interessen eingedampft auf die Entwicklung von nachgefragten Kompetenzen, die als skills je nach Auftrags-und Anforderungslage entwickelt und punktuell („on demand“) ausgebildet werden. Und ebenso wenig, wie man es dabei mit pädagogisch oder didaktisch substanziell weiterführenden Konzepten zu tun hat, ist die im Zuge des „agilen Lernens“ gefeierte Verflachung von Hierarchien ein Ausdruck größerer Freiheit: Sie dient, ganz im Sinne der als Paten fungierenden lean-management-Konzepte der 90er Jahre, vor allem der Optimierung und Verschlankung von Arbeitsabläufen und Lernprozessen. Und zuallererst natürlich der Kostenersparnis, indem man vorgeblich (Eigen-) Verantwortung für die Gestaltung von Lern- und Arbeitsprozessen an Menschen delegiert, die in den entscheidenden Fragen gar nichts zu entscheiden haben: Feedback erwünscht, Partizipation nicht vorgesehen. Bildung, sei es im humboldtschen und noch mehr in einem kritisch-emanzipatorischen Sinne, ist für diese verzweckte Vorstellung des Lernens letztlich ein überflüssiger Ballast, würde sie doch befähigen zum „Bedenken“ der Welt, wie sie ist, wie sie sein sollte – und vielleicht auch sein könnte. Aber wer kann das schon wollen, wenn die Zukunft doch im Sinne derer bereits ausgemacht ist, die schon heute die Tools dafür verkaufen.
Und so kann man die derzeitig propagierte Digitalisierung schulischen Lernens durchaus als ein trojanisches Pferd betrachten, das unter seiner attraktiven Oberfläche in der Schule zusammenführt, was zusammen gehört: Die Monopolunternehmen der IT- und Softwareindustrie, aber auch die ein oder andere Klitsche in der Provinz, liefern gerne und zu günstigen Preisen (was sich zumindest Microsoft, Apple, HP und Co. angesichts der großzügig gewährten Steuervermeidung auch leisten können) die Plattformen, Tools und Apps, mit denen dann die Schüler*innen die skills erwerben, die wiederum von den Unternehmen der digitalisierten Arbeitswelt benötigt werden. Die daraus erwachsende, sich immer weiter entgrenzende Verfügbarkeit, die Unterwerfung individueller Bildungsziele und Lebensvorstellungen unter ökonomische Prämissen und die digitalisierte Verwertung noch der privatesten Bereiche des Lebens werden als „neue Möglichkeiten“ oder gar als „individuelle Freiheit“ deklariert und der dazugehörige digital lifestyle wird, na ja, nicht ganz, unentgeltlich mitgeliefert. Wer da nicht freudig genug mitmacht, trägt das Stigma des Alten und Vorgestrigen. Und wer will das schon?
(1) Hier nur zwei Beispiele zur Herkunft und zur Rezeption des „vuka“-Paradigmas: https://www.agil-werden.de/willkommen-in-der-vuka-welt/ (11.01.19); https://dgs-partner.de/willkommen-in-der-vuka-welt/ (11.01.19)
(2) https://www.haufe.de/personal/hr-management/agiles-lernen/agiles-lernen-definition_80_427736.html (11.01.19)